Führungsqualität fängt bei der Diskussion auf Augenhöhe an

Sandra und Jürg im Interview mit der Kader-Zeitschrift alpha.ch

Wir diskutieren gerne über aktuelle Themen: Mit der Kader-Zeitschrift alpha.ch sprachen wir darüber, wie Organisationen und Unternehmen in Corona-Zeiten digitale Personalgewinnungsprozesse sicher und trotzdem persönlich gestalten können. Und weshalb Arbeitnehmer*innen vor allem dann profitieren, wenn Sie partnerschaftlich denken und handeln, sprich: Unternehmens- und Karriereziele in Einklang bringen.

Sandra Kohler, Jürg Widmer, wie beeinflusst Covid-19 Bewerber*innen und Unternehmen?

JW: Viele Unternehmen und ganze Branchen kämpfen aktuell ums Überleben. Dies macht uns betroffen. Wir beobachten jedoch auch, dass diese Krise innovativen Ideen Raum lässt und neue Formen der Zusammenarbeit quasi über Nacht Akzeptanz gefunden haben.

SK: Homeoffice, Kommunikation via Onlinetools und das Führen von Vorstellungsgesprächen mittels Videocalls sind in vielen Branchen und Berufsbildern normal geworden. Covid-19 ist nebst all den negativen Auswirkungen quasi ein Digitalisierungsbooster und hat viele Einwände, die jahrelang vorgeschoben wurden, endlich entkräftet.

Braucht es denn die persönliche Begegnung zukünftig überhaupt noch?

JW: Selbstverständlich kann in Ausnahmesituationen die Kommunikation über längere Zeit ausschliesslich online stattfinden. Doch gerade seit Covid-19 zeigt sich das ausgeprägte Bedürfnis von Menschen nach physischen Kontakten. Für uns ist ein persönlicher Kontakt als Teil der Personalgewinnung nach wie vor wichtig, insbesondere weil zum Beispiel Sozialkompetenz und Kommunikation bei qualifizierten Fachkräften oftmals mindestens so entscheidend sind wie die Fachkompetenz. Wir werden deshalb zukünftig auf einen Mix von Face-to-Face- und Video-Austausch setzen.

Wie läuft denn eine gute Rekrutierung heute ab?

JW: Das ist im Grundsatz ganz einfach. Es ist ein Dreiklang aus Diskussion auf Augenhöhe, Transparenz und raschen Reaktionszeiten. Gerade in Branchen mit ausgeprägtem Fachkräftemangel stehen Werte aus Sicht von potenziellen Mitarbeitenden stark im Fokus. Diese widerspiegeln sich oft auch im Gewinnungsprozess.

SK: Die Diskussion auf Augenhöhe spiegelt sich auch im Wording. Begriffe wie Rekrutierung oder Kandidat gehören definitiv der Vergangenheit an. Arbeitgeber*innen sind nicht mehr in der Rolle des Bachelors, bei dem die Frauen Schlange stehen und auf die letzte Rose warten.

Gehört es zu Ihren Aufgaben, den Arbeitgeber*innen diese Haltung näherzubringen?

JW: Unbedingt. Wenn wir Kunden im Gewinnungsprozess begleiten, unterstützen wir sie oftmals gleichzeitig hinsichtlich Arbeitgeberattraktivität.

SK: Dazu ein Beispiel: Im Gespräch kam das Thema auf, ob Homeoffice möglich sei. Die Führungsperson meinte, in Ausnahmefällen ja, jedoch nicht in der Probezeit. Da gehen bei mir die Alarmglocken los. Neue Mitarbeitende müssen sich in dieser Firma das Vertrauen offensichtlich zuerst verdienen – definitiv ein tradiertes und alles andere als zeitgemässes Führungsverständnis.

Für Menschen in Leitungspositionen, die von einer Kontrolltradition geprägt worden sind, ist es wohl schwierig, sich dazu durchzuringen.

SK: Absolut. Wir alle werden durch unser privates und berufliches Umfeld sozialisiert und übernehmen oftmals erlebte Wertvorstellungen. Wenn wir Führungspersonen also in Leadership-Trainings begleiten, steht die bewusste Auseinandersetzung mit persönlichen Wertvorstellungen stets im Fokus. Klar können wir den Führungspersonen geeignete Werkzeuge und Methoden mitgeben, aber schliesslich müssen sie selbst bereit sein, an sich zu arbeiten und neue Dinge auszuprobieren.

Tun sie das auch?

SK: Aufgrund der operativen Hektik kann der eigentlichen Führungstätigkeit meistens zu wenig Zeit eingeräumt werden. Je weiter oben man in der Hierarchie steht, desto mehr Zeit müsste man eigentlich für die Mitarbeitenden haben. Hinzu kommt, dass Führungspositionen systembedingt häufig durch erfahrene Personen besetzt sind, die jedoch ein anderes Wertesystem haben als ihre Mitarbeitenden. Dabei besteht die Gefahr, dass sie zu wenig verinnerlichen, was jüngere Mitarbeitende bezüglich Gestaltungsfreiheit, Austausch, Wertschätzung und Spass brauchen.

Zu Ihren Dienstleistungen gehört auch das Employer Branding. Braucht es das, um als Arbeitgeber*innen attraktiv zu sein?

JW: Mir ist der Begriff zu marketinglastig. Ich habe kürzlich im Inserat einer sehr traditionell organisierten Firma gelesen: «Magst du flache Hierarchien und direkte Kommunikationswege? Dann bist du bei uns richtig.» Diese Aussage traf definitiv nicht zu und ich bin überzeugt, dass der Schuss so rasch nach hinten losgeht. Wir setzen deshalb vorher an und begleiten Unternehmen gesamtheitlich in der Ausarbeitung und der Umsetzung von zielführenden und attraktiven Versprechen an Mitarbeitende. Oftmals haben Unternehmen aber auch sehr viel zu bieten und wissen gar nicht um ihre Stärken.

Und sprechen folglich auch nicht darüber?

SK: Ja, gerade KMU tragen ihre Trümpfe zu wenig nach aussen. KMU haben oftmals das Gefühl, sie hätten das Nachsehen gegenüber den grossen Playern. Ich bin aber überzeugt, dass KMU hinsichtlich Arbeitgeberattraktivität einen riesigen Aufschwung erleben werden. Mitarbeitende stellen sich zunehmend die Sinnfrage. Kann ich hier etwas bewirken oder bin ich eine Nummer, die andauernd reorganisiert wird? Da liegt noch viel Potenzial verborgen, auch in der Kommunikation.

Interview: Andreas Minder, erschienen 08.11.2020 für Alpha sowie im Stellenanzeiger von Der Bund und Berner Zeitung.